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Es ist kein Geheimnis, dass wir alle Geheimnisse haben. Doch nur wenige davon sind wirklich so geheim, wie wir glauben.
Piter de Vries,
Mentatenanalysen der Schwächen des Landraads,
privates Harkonnen-Dokument
Unter dem Kommando von Herzog Atreides schwärmten kleine Trupps der imperialen Wachen aus, um die Palastanlagen zu durchsuchen. Leto ließ seine schwache und erschöpfte Jessica nur ungern allein zurück, aber er konnte nicht an ihrer Seite verharren, während sein neugeborener Sohn in Gefahr war.
Er rief Befehle und duldete keine Verzögerungen. Als er durch prächtige Korridore und verwirrende Labyrinthe aus prismatischen Spiegeln stürmte, dachte er an die Wildheit, mit der Gaze-Hunde ihre Jungen beschützten. Herzog Leto würde beweisen, dass ein verzweifelter Vater ein genauso erbarmungsloser Feind sein konnte.
Man hat meinen Sohn geraubt!
Erinnerungen an Victor verfolgten ihn, und er schwor sich, dass er alles tun würde, damit seinem Sohn kein Leid zugefügt wurde.
Doch der Palast des Imperators hatte den Umfang einer kleinen Stadt, und er war so angelegt, dass er eine Fülle von Verstecken bot. Die Suche schien sinnlos, doch Leto bemühte sich, nicht die Hoffnung zu verlieren.
* * *
Piter de Vries war es gewöhnt, Blut an den Händen zu haben, aber nun fürchtete er wirklich um sein Leben. Er hatte nicht nur das Kind eines Adelshauses entführt, sondern außerdem die Frau des Imperators getötet.
Nun hastete er durch die Korridore und entfernte sich immer weiter von Aniruls Leiche. Seine gestohlene Sardaukar-Uniform war ramponiert und voller Blutflecke. Sein Herz raste, und er hatte Kopfschmerzen, aber trotz seiner intensiven Ausbildung war der Mentat nicht in der Lage, einen vernünftigen Fluchtplan zu entwickeln. Sein Make-up war verschmiert, und die Saphoflecken auf seinen Lippen waren deutlich zu erkennen.
Das Kind, das er immer noch in eine Decke gewickelt bei sich trug, strampelte und schrie gelegentlich, doch die meiste Zeit verhielt es sich erstaunlich ruhig. Im rosafarbenen Gesicht glühten die jungen Augen mit einer seltsamen Intensität, als wüsste der Junge, in welcher Lage er sich befand. Er unterschied sich sehr vom quengeligen und oftmals nervtötenden Feyd-Rautha.
Er wickelte die Decke fester um den winzigen Körper und war einen Moment lang in Versuchung, das Kind einfach zu ersticken. Er riss sich zusammen und huschte geduckt in einen schwach beleuchteten Raum, in dessen Nischen zahlreiche Statuen und Pokale standen. Offenbar war dieses Zimmer von einem lange vergessenen Angehörigen des Hauses Corrino angelegt worden, um die Trophäen ausstellen, die er im Bogenschießen errungen hatte.
De Vries schrak zusammen, als er plötzlich den Umriss einer schwarz gewandeten Frau vor sich sah, die wie ein Todesengel in der Tür erschienen war und ihm den einzigen Fluchtweg versperrte.
»Halt!«, befahl die Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam mit der vollen Kraft der Stimme.
Ihr Kommando lähmte seine Muskeln und ließ ihn reglos innehalten. Mohiam glitt in das Trophäenzimmer, und im diffusen Licht schien ihr Zorn wie ein wildes Feuer zu brennen. »Piter de Vries«, sagte sie, als sie unter dem verschmierten Make-up seine Gesichtszüge erkannte. »Dachte ich es mir doch, dass die Harkonnens wieder die Hände im Spiel haben.«
Er kämpfte gegen den unsichtbaren Bann ihres Befehls und dachte fieberhaft nach. »Kommen Sie nicht näher, Hexe«, warnte er sie mit zusammengebissenen Zähnen, »sonst töte ich das Kind.« Es gelang ihm, die Arme anzuspannen und einen Teil seiner Körperbeherrschung zurückzugewinnen, doch sie konnte ihn jederzeit mit einem weiteren Befehl erneut paralysieren.
De Vries wusste, dass die Bene Gesserit ausgezeichnete Kämpferinnen waren. Er hatte sich soeben ein Duell mit der Gattin des Imperators geliefert und war überrascht gewesen, dass er sich gegen sie durchsetzen konnte. Doch Anirul war durch eine Krankheit geschwächt gewesen, was ihm einen entscheidenden Vorteil verschafft hatte. Mohiam war in jedem Fall eine gefährlichere Gegnerin.
»Wenn Sie das Baby töten, werden Sie im nächsten Moment sterben«, sagte sie.
»Sie wollen mich ohnehin töten. Das sehe ich Ihren Augen an.« De Vries kam ihr trotzig einen kleinen Schritt entgegen, um zu demonstrieren, dass er die Macht ihrer Stimme überwunden hatte. »Was sollte mich daran hindern, den Erben des Herzogs zu ermorden und dem Haus Atreides neues Leid zuzufügen?«
Er machte einen zweiten Schritt und drückte das Kind wie einen Schild an die Brust. Nur ein kurzer Ruck, und das zarte Genick wäre gebrochen. Auch mit ihren schnellen Reflexen würde Mohiam nicht rechtzeitig eingreifen können.
Er musste nur irgendwie an ihr vorbeikommen und diesen Raum durch die Tür verlassen – dann konnte er rennen. Selbst mit einem Kind in den Armen würden seine Beine ihn schneller in Sicherheit bringen, als diese Frau jemals laufen konnte. Es sei denn, sie verbarg eine Waffe unter ihrem Gewand, keine vergiftete Nadel, sondern etwas, das sie nach ihm werfen oder mit dem sie auf ihn schießen konnte. Er musste irgendetwas versuchen ...
»Dieses Kind besitzt eine große Bedeutung für die Bene Gesserit, nicht wahr?«, sagte de Vries und wagte einen weiteren Schritt. »Offensichtlich gehört es zu einem Zuchtplan.« Der Mentat wartete ab, ob in ihrem Gesicht ein Muskel zuckte, doch er sah nur, wie sie die langen Finger anspannte. Ihre Fingernägel konnten zu rasiermesserscharfen Krallen werden, die ihm die Augen herausrissen oder die Kehle aufschlitzten. Er spürte seinen pochenden Herzschlag.
Er hielt das Baby etwas höher, um sein Gesicht zu schützen.
»Wenn Sie mir das Kind geben, lasse ich Sie vielleicht entkommen«, sagte Mohiam. »Dann können sich die Sardaukar mit Ihnen befassen.«
Sie kam näher, und de Vries erstarrte. Er beobachtete sie genau und war bereit, sofort zu reagieren. Soll ich ihr glauben?
Sie berührte die Decke mit starken Fingern und blickte dem Mentaten fest in die Augen. Doch bevor sie ihm das Kind entreißen konnte, flüsterte er heiser: »Ich kenne Ihr Geheimnis, Hexe. Ich weiß, wer dieses Kind ist. Und ich kenne auch Jessicas wahre Herkunft.«
Mohiam erstarrte, als hätte er die Stimme gegen sie eingesetzt.
»Weiß die Hure, dass sie in Wirklichkeit die Tochter von Baron Wladimir Harkonnen ist?« Als er ihre überraschte Reaktion bemerkte, sprach er immer schneller, weil er nun wusste, dass seine Schlussfolgerungen korrekt waren. »Ist sich Jessica bewusst, dass Sie auch Ihre Tochter ist – oder halten die Hexen solche Tatsachen vor ihren Kindern geheim, die sie wie Schachfiguren in einem großen genetischen Plan behandeln?«
Mohiam gab keine Antwort, sondern entriss ihm das Kind. Der verderbte Mentat trat mit erhobenem Kopf zurück. »Bevor Sie etwas gegen mich unternehmen, sollten Sie mir zuhören. Als ich von diesen Dingen erfuhr, habe ich eine detaillierte Dokumentation zusammengestellt und versiegelt. Im Fall meines Todes wird sie an Baron Harkonnen und den Landsraad weitergeleitet. Wäre Herzog Leto Atreides nicht entzückt, wenn er erfährt, dass seine hübsche kleine Geliebte die Tochter seines Todfeindes ist?«
Mohiam legte das Baby neben einer Trophäe mit der Statue eines Bogenschützen ab, die in einer mit Velva ausgeschlagenen und mit safrangelbem Licht beleuchteten Nische stand.
Er redete hastig weiter, um sie zu verunsichern. »Ich habe mehrere Kopien dieser Dokumente an geheimen Orten deponiert. Sie können nicht verhindern, dass die Wahrheit bekannt wird, wenn Sie mich töten.« De Vries machte zuversichtlich einen Schritt in Richtung der Tür, seinem einzigen Fluchtweg. »Sie dürfen es nicht wagen, mir etwas anzutun, Hexe!«
Nachdem das Baby in Sicherheit war, drehte sich Mohiam wieder zu ihm um. »Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, Mentat ... dann muss ich Sie am Leben lassen.«
De Vries atmete erleichtert auf. Die Ehrwürdige Mutter durfte nicht riskieren, dass die Wahrheit ans Licht kam. Wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass er nicht bluffte, waren ihr die Hände gebunden. Sie musste ihn laufen lassen.
Plötzlich griff Mohiam ihn mit der Wildheit eines verletzten Panthers an. Sie schlug mit Händen und Füßen auf ihn ein. De Vries wurde zurückgeworfen und versuchte sich zu verteidigen. Er hob einen Arm, um einen kräftigen Fußtritt abzuwehren.
Der Schlag brach ihm das Handgelenk, aber er riss sich sofort zusammen und blockte die Schmerzimpulse ab. Gleichzeitig holte er mit dem anderen Arm aus. Mohiam stürzte sich erneut auf ihn. Sie bewegte sich so schnell, dass er gar nicht alle Hiebe sah und sie erst recht nicht parieren konnte. Ihr Angriff war ein verschwommener Hagel aus Schlägen, Tritten und Stichen.
Ihre Ferse traf ihn in den Bauch. Eine stahlharte Faust stieß gegen sein Brustbein. Er spürte, wie seine Rippen brachen und innere Organe zerplatzten. Er versuchte sie anzuschreien, doch aus seinem Mund kam nur Blut. Die Saphoflecken auf seinen Lippen wurden von einem noch helleren Rot überdeckt.
Er trat mit dem Fuß nach ihr und wollte ihre Kniescheibe zertrümmern, aber Mohiam wich geschickt zur Seite aus. De Vries hob seinen intakten Arm, um einen neuen Stoß abzufangen, doch dabei brach die Bene Gesserit ihm auch das zweite Handgelenk.
Er wandte sich zur Flucht, wollte dem Kampf ausweichen und lief zum Ausgang. Doch Mohiam erreichte die Tür zuerst. In einer blitzschnellen Bewegung riss sie die Ferse hoch und traf seinen Unterkiefer. Der Schlag brach dem Mentaten das Genick. Piter de Vries stürzte zu Boden. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck maßlosen Erstaunens.
Mohiam stand reglos da und rang nach Atem. Sie brauchte nur einen kurzen Moment, um sich zu erholen. Dann holte sie das gerettete Atreides-Baby.
Bevor sie das Trophäenzimmer verließ, warf sie noch einen Blick auf die Leiche und gönnte sich für einen kurzen Moment ein gehässiges Grinsen. Sie spuckte dem Toten ins Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie er sich amüsiert hatte, als sie vom Baron vergewaltigt worden war.
Mohiam wusste, dass es keine Dokumentation der Geheimnisse gab, die de Vries enthüllt hatte. All die folgenschweren Offenbarungen waren mit ihm gestorben.
»Belüge niemals eine Wahrsagerin«, sagte sie.